Die tschechische Avantgarde und die „Konstruktivistische Internationale“

 Im Dezember 1922 erchien in Prag die zweite Nummer der Zeitschrift „Život. Sborník nové krásy“ 1), eine Publikation, die sich scharf von der damaligen Buch- und Zeitschriftenproduktion unterschied, und zwar sowohl durch die Getaltung als auch durch den Inhalt. Das wird auch deutlich durch den Untertitel „Neue Kunst – Konstruktion – zeitgenössische intellektuelle Aktivität“ und durch die Umschlaggestaltung, eine gemeinsame Arbeit von Bedřich Feuerstein, Jaromír Krejcar, Josef Šíma und Karel Teige, den wichtigsten Vertretern der tschechischen Avantgarde. Ihr in Deutsch verfaßtes Statement über Zusammenarbeit und das Bekenntnis zur Losung „Purismus, Kollektivismus, Internationalismus“ finden sich in diesem Heft gemeinsam mit Šímas Gemälde „Paris“ (1922) und zwei architektonischen Entwürfen von Krejcar. Der Sammelband, gewidmet „der Schönheit der gigantischen Transatlantikliner, den amerikanischen Stahlbauten, Wolkenkratzern, Maschinen, Turbinen, Automobilen, Aeroplanen, Großstadtkreuzungen mit der brodelnden Herrlichkeit von Werbebuchstaben, des Kinos“ 2) , bringt neben Photographien aus diesen und anderen Bereichen unter anderem tibetische Architektur, Neger- und Indianerplastik, Abbildungen von Kunstwerken und einer Reihe von Texten über Ästhetik und einen Text Ilja Ehrenburgs über den Konstruktivismus: „Und sie bewegt sich doch“.

Die Anthologie stellt auf diese Weise eine radikal neue Orientierung und das Finden eigener Ausgangspunkte für schöpferische Aktivitäten der Mitglieder des „Künstlerverbandes Devětsil“ (1922-1931) dar, einer Organisation, die Schriftsteller, Maler, Architekten, Photographen, Theaterkünstler, Musiker, Kritiker und Publizisten der Generation vereinte, die sich zu einem neuen Verständnis des künstlierischen Schaffens bekannte. Der geistige Umbruch in dieser Zeit wird spürbar bei dem Vergleich mit dem „Revoluční sborník Devětsil“ 3) , der als erste Gruppenpublikation einige Monate vor dem  „Život II“ erschien und dessen erster Teil ein Bild der vorausgegangenen Etappe der proletarischen Kunst und der poetischen Naivität gab 4)

Die neuen Bestrebungen, die diese beiden Anthologien proklamierten, wirden in breiterem Umfang ab 1923 wirksam, als Devětsil seine regelmäßige Publikationsplattform in den eigenen Zeitschriften „Disk“, „Pásmo“ und dem Blatt des Klubs der Architekten „Stavba“, in dem Teige Redaktionsmiglied war, fand. 5)  Diese Zeitschriften gestalteten sich zu Medien einer breiten internationalen Zusammenarbeit. In Böhmen und Mähren, in Prag und Brünn, stellten sie in den Jahren 1922-1926, also in der Zeit der „K. I.“ eine offene Form des Informationsaustauschs dar, die parallel zu den erhältlichen internationalen Avantgardezeitschriften wirkten. Neben der Architektur und der Photographie gehörten diese zu den eigenständigen Äußerungen, mit denen sich die tschechische Avantgarde in den ersten Hälfte der zwanziger Jahre präsentierte. Der Kongreß und die mit dem Entstehen der „K. I.“ in Düsseldorf verbundenen Ereignisse konnten in diesen Heften noch nicht publiziert werden. Im zweiten Jahrgang von „Stavba“ findet sich jedoch ein Artikel von Ludwig Hilberseimer, „Bauhandwerk und Bauindustrie“, aus „G“ 6) , übersetzt von K. T., und ein längerer Bericht über diese Zeitschrift, die vom Autor als sehr bedutsam eingeschätzt wird. „G. Material zur elementaren Gestaltung… unter Führung des schlauen und kämpferischen Hans Richter in Berlin ist das konsequenteste und radikalste Organ des heutigen Konstruktivismus … Die zweite Nummer bringt auch Bericht über „Stavba“, „Život II“, „Disk“, „Devětsil“ und über die Prager Ausstellung des „Devětsil“. Der Vorteil alle dieser Berichte ist ein klarer, konzentrierter und sachlicher Stil. Wirklich, diese Zeitschrift ist tatsächlich das modernste Blatt in Europa.“ 7)

Dieses Lob ist für Teige etwas Außerordentliches. In diesem Text wie auch im Artikel „Das Weimarer Bauhaus und die deutsche Moderne“ 8) spricht er über diese Schule mit ziemlich großen Vorbehalten und Ausfällen gegen kunstgewerbliche Tendenzen, die sein Mißfallen erregt hatten. An anderer Stelle äußert sich Teige direkt zum Konstruktivismus, der „der radikalste Versuch einer Lösung der Krise des modernen Bildes“ sei. „Seine Anfänge finden wir in der jüngsten russischen Kunst. In Deutschland fand er Eingang als eine gesunde Reaktion gegen den metaphysischen und romantischen Expressionismus. Die Konstruktivisten denken real und ihre Realisationen sind logische Folge der Arbeitsmethode von heute, die auf der Kollektivität beruht. Der Konstruktivismus … weiß, daß es keine andere Basis für die Kunst gibt außer der sozialen, technischen und ökonomischen. Mathematische Klarheit, geometrische Strenge, zweckmäßige Organisation, äußerste Ökonomie, exakte Konstruktion, - das sind nicht aur technische, sondern auch eminent ästhetische Forderungen von heute… Der französiche Purismus ist in großem Maße eine parallele Bewegung, teilweise jedoch Gegensatz, Korrektur und Ergänzung des Konstruktivismus.“9) Diese knappe Äußerung faßt im Prinzip Teiges gesamtes Programm, das er später weiterentwickelte, zusammen, und sie ist wahrscheinlich eine der ersten veröffentlichten Formulierungen von Teige über den Konstruktivismus überhaupt. Der Artikel und die Begleitumstände seines Entstehens verweisen auf Beziehungen zwischen „Devětsil“ und der deutschen Avantgarde am Anfang der zwanziger Jahre. Teige, damals 22jährig, beweist eine sehr gute Kenntnis in der internationalen Kunstszene sowie einen eigenen ausgeprägten, wertenden Standpunkt. Der Kontakt mit der „K. I.“ funktionierte jedoch indirekt, durch die Vermittlung von Adolf Behne, 10) der in dieser Zeit Beiträge für die tschechischen Avantgardezeitschriften schrieb. Anfangs hat die „K. I.“ die Konstituierung des ästhetischen Modells von „Devětsil“ nicht direkt beeinflußt.

Im Sommer 1922 besuchte Teige Paris. Hier macht ihn der seit 1920 in Paris ansässige Maler Josef Šíma mit Auguste Perret bekannt, ebenso mit Charles Edouard Jeanneret (Le Corbusier), Amédée Ozenfant und mit dem Redaktor des „L´Esprit Nouveau“, Paul Dermée. Die Ideen des russischen Konstruktivismus, die „L´Esprit Nouveau“ ebenfalls vermittelte, lernten die Tschechen sowohl durch Ilja Ehrenburg, dessen Frau Konziceva in Prag unter der Schrimherrschaft von „Devětsil“ ausstellte, als auch durch die von Ehrenburg und El Lissitzky in Berlin 1922 publizierte Zeitschrift „Vesc – Gegenstnd – Objet“ kennen. Die Kontakte sind auch ein Verdient von Roman Jakobson, Mitglied der linguistischen Gruppe „Opojaz“ und Presseattaché der sowjetischen Botschaft in Prag 11)  Solche Impulse waren in diesem Augenblick ausschlaggebend, was jedoch nicht bedeutet, daß keine direkten Beziehungen zwischen der tschechischen und der deutschen Kunst bestanden hätten. Diese waren im Gegenteil sehr eng und hatten ihre Wurzeln schon in der kubo-futuristischen Generation.

1920 und 1921 veranstateten Raoul Hausmannn, Richard Huelsenbeck und auch Kurt Schwitters Dada-Abende in Prag. Daß diese kein großes Echo verzeichneten, ist nicht nur der damaligen Orientierung von „Devětsil“ zuzuschreiben. Wenn auch Teige eine seiner späteren Studien „Über Humor, Clowns und Dadaisten“ nannte und eine der avantgardistischen Prager Bühnen den Namen Theater „Dada“ trug, so entsprach doch der Geist von Dada mit seiner Subversivität und politischen Schärfe nicht der geistigen Atmosphäre der tschechischen Avantgarde. Diese Atmospähre gestattete einfach nicht das Verständnis der existentiellen Dimensionen jener „Null-Situation“ von Dada, welches es ermöglicht hätte, Dada als Ausdrucksmöglichkeit zu akzeptieren. 12)

In den Jahren 1924-1925 mehrten sich die direkten Kontakte zwischen „Devětsil“ und der deutschen und internationalen Bewegung. Auf Einladung von Devětsil und des Klubs der Architekten kamen zu Vorträgen nach Prag und Brünn neben Le Corbusier, Amédée Ozenfant, Adolf Loos auch J. J. P. Oud, Walter Gropius, László Moholy-Nagy, Hans Richter, Theo van Doesburg, später auch Kurt Schwitters, Josef Albers, Hannes Meyer und viele andere. Umgekehrt nahmen tschechische Künstler an deutschen Veranstaltungen teil. So stellten Bedřich Feuerstein, Vít Obrtel, Jaromír Krejcar, Jaroslav Fragner in der Bauhaus-Aussellung 1923 aus. Bohuslav Fuchs, Josef Hausenblas, Evžen Markalous, Zdeněk Rossman und Karel Teige beteiligten sich an der Ausstellung „Film und Foto“ 1929 in Stuttgart. Walter Gropius bildete in seinem Buch „Internationale Architektur“ Werke von Chochol,  Obrtel und Fragner ab. Nach 1926 wurde Hausenblas, der am Bauhaus studiert hatte, sogar Mitglied von „Devětsil“. 1929 lud Hannes Meyer Teige zu Vorträgen über die Soziologie der Architektur nach Dessau ein. Im selben Jahr veranstaltete der Klub der Architekten in Prag eine Wekbundausstellung unter dem Titel „Neues Bauen“.

Neben den ganz konkreten Wechselwirkungen, Inspirationen und Vergleichen paralleler Lösungen im Schaffen der einzelnen Zentren und Gruppen spielte der internationale Charakter der deutschen Avantgarde eine sehr wichtige Rolle. Es war die des Vermittlers zwischen Ost und West, also eine ähnliche Aufgabe, wie sie die tschechische Avantgarde in ihren Zentren spielte. Es sei hier auf einige Beispiele hingewiesen, die zeigen, wie fruchtbar diese Kontakte für das Entstehen von eigenständigen künstlerischen Lösungen waren. Wichtig war zum Beispiel die deutsche Vermittlung der Therorie des russichen Avantgarde-Theaters. Tairovs 1921 publizierten „Notizen eines Regisseurs“ kannten die Tschechen durch die deutsche Ausgabe „Das entfesselte Theater“ (1925). In der Übersetzung des Regisseurs Jindřich Honzl wurden sie unter dem Titel „Osvobozené divadlo“ (Das befreite Theater) in Prag herausgegeben. Dieser veränderte Titel hat der Theatersektion und der Bühne von „Devětsil“ ihren Namen gegeben. Jene wurde durch ihre avantgarsdistischen Inszenierungen, Rezitations- und Tanzabende oder Musikproduktionen seit 1926 zum Ort enger Zusammenarbeit der Regisseure Jindřich Honzl und Jiří Frejka, des Dichters Vítězslav Nezval und des Schriftstellers Vladislav Vančura, des ersten Vorsitzenden von „Devětsil“, des Komponisten Jaroslav Ježek und der Bühnengestaler Antonín Heythum, Zelenka, Otakar Mrkvička, Vít Obrtel und František Muzika. In den zwanziger Jahren brachte das „Befreite Theater“ einen radikale Veränderung der Theaterkonzeption mit der Ablehnung jeglichen Illusionismus und naturalistischer Requisiten, mit dem Ersatz des Bühnenbildners durch einen Konstrukteur oder Architekten, mit der Veränderung der schauspielerischen Darstellung sowie des Inhaltes der Theaterstücke. Mit dem „Befreiten Theater“ sind auch die nicht realisierten Ideen einer zentralen Raumbühne (Josef Chochol, 1927) verbunden, die Gemeinsamkeiten mit Entwürfen aus dem Bauhaus, von Gropius und Weininger, aufweisen. Das „Befreie Theater“ stand allen konstruktivistischen Tendenzen offen, und es verwirklichte eine Gemeinsamkeit des Schaffens, die die modernsten internationalen Impulse integrierte.

Die Voraussetzung aller dieser inter- und multimedialen Ereignisse ist der bewußte Hang zum Elementarem, 13) der nach der primären Reduktion neue Beziehungen und Verhältnisse zwischen den befreiten künstlerischen Mitteln ermöglicht. Diese Trennung und die neue Verbindung ist dem konstruktivistischen Denken zutiefst eigen, und sie ist Ausgangspunkt des Ausdrucks eines dynamischen Raums nicht nur im Theater, in der Architektur oder im Buch, in der Photographie und im Film, sondern auch in neuen optischen Gestaltungen.

Aus der Sicht der tschechisch-deutschen Beziehungen ist beispielsweise die Integration von bildnerischem und musikalischem Schaffen des Komponisten Erwin Schulhoff als intermediale Realisation erwähnenswert. Angeregt wurde Schulhoff während eines Aufenthalts in Dresden 1919 von George Grosz und Otto Dix; 1920 erschienen die zehn Farblithographien Otto Griebels zu seinen Klavierkompositionen ebenfalls in Dresden. Später komponierte Schulhoff zu dem deutschen Text von Otto Rombach das Jazzoratorium „H. M. S. Royal Oak“ (1930), das 1931 auch in Frankfurt aufgeführt wurde 14).

Auf einer neuen Beziehung zwischen Musik und bildender Kunst basiert auch die Farbmusik von Miroslav Ponc, der 1924 während seines Aufenthaltes in Berlin Mitglied in Herwarth Waldens „Sturm“ wurde. Mit Oskar Schlemmer arbeitete er an einem Konzept für Farbmusik und einer szenischen Realisation des Vierteltonballetts „Das tanzende Theater“. Das Modell dieses architektonisch-bildnerischen Werks stellte er später in Berlin unter dem Zeichen des Diskus, dem Symbol „Devětsils“, aus 15).

Diese ihrem Wesen nach konstruktivistischen Bestrebungen gipfelten im Werk von Zdeněk Pešánek, der 1922 die erste Version seines Farbklaviers entwickelte, das er 1925 vollendete. Außerdem arbeitete er noch an zwei weiteren Problemen der kinetischen Kunst, der kinetischen Lichtfontäne und der kinetischen Lichtplastik. Hier ergibt sich eine Parallele zu Raoul Hausmanns Vorstellung eines Optophon, die er 1922 en dem Text Optophonetik in den Zeitschfirten „MA“ und „Vesc“ publizierte, und mit Hirschfeld-Macks und Schwerdfegers reflektorischen Lichspielen im Bauhaus 16) . Diese Ideen waren selbstverständlich in Prag bekannt. Hirschfeld-Macks und Schwerdtfegers Arbeiten führte Teige in dem „den Kameraden von Devětsil“ gewidmeten Buch „Film“ 17) an, in dem er an mehreren Stellen über den deutschen Film berichtet. Außerordentliche Aufmerksamkeit widmet er neben dem Fotogramm, der Filmgroteske und dem lyrischen Film auch dem abstrakten Film: „Die Filmpartituren von Lissitzky, Hans Richter, W. Graeff und V. Eggeling sind neoplastische Bilder und  Konstruktionen, in rhythmische Bewegung gebracht.“ 18)

Mit Photographie und Film beschäftigten sich die Mitglieder von „Devětsil“ von Anfang an systematisch. Von 25 Texten in der Anthologie „Devětsil“ sind sieben dem Film gewidmet 19). In den Ausgaben der „Devětsil“-Zeitschriften finden sich Werke von Moholy-Nagy, El Lissitzky, Rodtschenko, Peterhans und Man Ray, der auch an zwei „Devětsil“-Ausstellungen teilnahm. Von ähnlichem Bestrebungen um das Verständnis des Wesens der Photographie, nämlich des Lichts, zeugen eine Reihe von Lichtabstraktionen Jaroslav Rösslers, 1922-1923, sowie abstrakte Kompositionen und Aufnahmen von Industriebauten Jaromír Funkes aus der zwiten Hälfte der zwanziger Jahre. 20)

Die Photographie wurde Bestandteil der Konzeption der Zeitschriften, der Bildgedichte und später der Buchumschläge, sie wurde Bestandteil einer neuen Sprache, einer verbovisuellen Mitteilung. Mit dem Bildgedicht beschäftigten sich in den Jahren 1923-1926 zahlreiche Dichter, bildende Künstler und Photographen, so Jindřich Štyrský, Toyen, Karel Teige, Vítězslav Nezval, Jaroslav Rössler, Jiří Voskovec. Es ist das originäre und zugleich international verständliche Produkt der Poetik des „Devětsil“, das auf der Kombination von Collage, Photomontage und typographischer Gestaltung basiert. Das Bildgedicht ist ein Ausdruck „der Fusion der modernen Malerei mit dem modernen Poesie“, wenn „das Gedicht sich wie ein modernes Bild liest. Das moderne Bild liest sich wie ein Gedicht“ 21). Eine besondere Rolle bei der visuellen Mitteilung spielte das „Typo-Foto“. Diesen Begriff übernahm Teige von Moholy-Nagy, dessen gleichnamiger Text 1925 in „Pásmo“ veröffentlicht wurde. 22)

Teige knüpft hier an El Lissitzkys aktuellen Gedanken über das visuelle Wesen der modernen Wahrnehmung an, den dieser schon 1920 in der Zeitschrift „UNOWIS“ ausgesprochen hatte. Ähnlich wie dieser formuliert auch Teige in Stichpunkten die Grundsätze der Typographie in der Studie „Modernes Typo“, die 1927 in der „Typografia“ erschien. Diese Zeitschrift wurde seit jenem Jahrgang zu einer Plattform der konstruktivistischen Bewegung. Neben zwei Texten von El Lissitzky wurden hier auch andere wichtige Texte der Schöpfer der neuen Typographie abgedruckt.

Exemplarisch für die Buchgestaltungen etlicher Künstler wie František Musika, Josef  Šíma, Obrtel, Štyrský, Toyen, Jiří Jelínek, Adolf Hoffmeister 23) sei an dieser Stelle das Buch „Abeceda. Taneční kompozice Milči Majerové“ 24) herausgegriffen. Es verdeutlicht die für die zweite Hälfte der zwanziger Jahre charakteristische Entwicklung von den Bildgedichten zu einfachen Photomontagen und typographischen Kompositionen funktionalistischer Prägung. Der Text von Nezval, zuerst 1924 abgedruckt in dem Buch „Pantomima“, wurde als pantomimische Darstellung der Tänzerin Milča Majerová außerdem anläßlich eines Abends des „Befreiten Theaters“ aufgeführt. Photographien einzelner tänzerischen Positionen wurden von Teige für seine typographische Realisation des Alphabets im Sinne von „Typofotos“ benutzt, indem hier das Bild des Buchstabens in ein dem Text gegenüberliegendes abstraktes, graphisches Gedicht verwandelte. Diese integrierte „Verbo-Foto-Typ-Form“ stellt eine avantgardistische Transformation der Idee des Gesamtkunstwerks das und gelangt durch die innige Verknüpfung der einzelnen Gestaltungselemente zu einer elementaren Konstruktion des Buches. Auf diese Weise vereint es die Rezeption der vorangegangenen Entwicklung mit der Antizipation von konkreter und visueller Poesie, Konzeptkunst, Happening und Bodyart. 25)

Der Konstruktivismus und die ihm parallele Formulierungen wurden in Böhmen bereits seit Anfang der zwanziger Jahre aufgenommen. Die Prinzipien, die später durch den Konstruktivismus entwickelt wurden, kamen in Böhmen – als einem der ersten Länder in Europa – schon seit der Jahrhundertwende zur Geltung 26) und brachten bereits lange vor dem Bekenntnis des „Devětsil“ zum konstruktivistischen Programm einige Konzepte „neuer Architektur“ hervor. 27) Zum allgemein gültigen Prinzip, das das Programm der tschechischen Avantgarde als ein Ganzes mitbestimmte, wurde der Konstruktivismus jedoch erst in der Polarität zum Poetismus. In der theoretischen Reflexion dieser Polarität „Konstruktivismus-Poetismus“ kristallisierte sich das theoretische Modell der Devětsil-Ästhetik heraus, die eine spezifische Artikulation der tschechischen Avantgarde und einen ureigenen Beitrag zur europäischen Avantgarde darstellt.

Der Poetismus, der als Reaktion auf das geistige Klima der Zeit „erfunden“ 28) und in den Jahren 1924-1928 im Schaffen der Dichter Nezval, Jaroslav Seifert (Nobelpreisträger 1984), Konstantin Biebl und anderer zu einer poetischen Methode entwickelt wurde, wird in einem erweiterten Verständnis zur allgemeinen programmatischen Grundlage der „Devětsil“-Bewegung. Seine Wirkungskraft strahlt in die verschiedensten Kunstgattungen aus, die dadurch zu „Dichtungen“ werden. Neben dem Bildgedicht verbindet sich mit dem Poetismus auch die Artikulation des Artifizialismus in der Malerei von Štyrský und Toyen: „Der Artifizialismus ist die Gleichsetzung des Malers und des Dichters.“ 29) Der Poetismus ist ein Instrument der Imagination des Künstlers/Dichters, der sich an der Wirklichkeit berauscht. Sein Mittel ist die lyrische Transfiguration, in der es auf Grund einer metaphorischen und metonymischen Bedeutungswandlung zu einem totalen Erfassen der Wirklichkeit  durch das Wort oder durch andere künstlerische Mittel kommt.

Den Konstruktivismus definiert Teige wiederholt in seiner Beziehung zum Poetismus, wobei er den Konstruktivismus konsequent als Gegensatz und Pendant begreift. Beide Begriffe ergänzen sich und bilden ein neues Ganzes. Die Konstruktion ist die Basis der Welt. Die Poesie ist die Krone des Lebens … Die Welt soll mit Vernunft und Weisheit beherrscht werden, ökonomisch, zielstrebig, zweckmäßig. Die Methode dieser Herrschaft ist der Konstruktivismus. Die Vernunft würde aufhören, weise zu sein, wenn sie, die Welt beherrschend, die Bereiche der Sensibilität unterdrückte.“ 30)

Beurteilen wir das Schaffen der „Devětsil“-Künstler aus der Sicht Teiges, so dürfen wir nicht der vereinfachten Vorstellung vom schlichten Gegensatz der rationalen und zweckmäßigen Ordnung der Konstruktion zur spielerischen, sorglosen und leichten Improvisation, für die sich der Poetismus ausgibt, erliegen. Bei näherer Betrachtung konkreter Arbeiten der „Devětsil“-Künstler zeigt sich, daß zum Beispiel in den Bildgedichten, die als Ausfluß des Poetismus gelten, das konstruktive Prinzip zur Anwendung gekommen ist. Auch bei den Malern Šíma, Štyrský, Toyen und anderen finden sich in den Jahren 1923-1926 konstruktive Bilder, wenn auch diese Arbeiten nur jeweils eine Etappe im Gesamtwerk darstellen. 31) Wenn sich Teige an die Losung „Poesie ist die einzige Kunst der modernen Zeit“ (Obrazy) halten wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als diese Bilder einfach zu Gedichten zu erklären. Es müssesn demnach auch Teiges theoretischen Texten Reaktionen auf aktuelle künstlerische Entwicklungen und eine gewisse dichterische Herangehensweise zugestanden werden.

Hubertus Gaßner machte auf das Moment des Überschreitens der Rationalität in den frühen Werken russischer Konstruktivisten und auf den späteren Verlust dieser existentiellen Dimension aufmerksam 32).  Wenn der Begriff des Konstruktivismus in der tschechischen Avantgarde diese Dimension entbehrt, so bedeutet dies nicht, dass sie im Konzept der gesamten Avantgarde-Poetik fehlte. Vergessen wir nicht den Namen der ersten Anthologie „Život – Leben“: Das Leben, das von allen einstimmig beschworen wurde. Es sei auch auf solche Formulierungen hingewiesen wie „Der Mensch ist das Stilprinzip des Konstruktivismus“ (Karel Teige) oder „Das Bild ist ein konstruktives Gedicht der Schönheiten der Welt“ (Jindřich Štyrský) 33). Die „Devětsil“-Generation lehnte die Metaphysik ab, wenn sie die vorausgegangene Kunst verneinte. Die Faszination der Gegenwart und die Vision der Zukunft jedoch sind metaphysische Kategorien. 34)

 

1) Život (Das Leben), hrsg. von Jaromír Krejcar, 2. 1922, Umělecká beseda, Prag

2) Jaromír Krejcar, Co se chystá, Českosloenské noviny, 1. 1922, 24. 2. S. 6. Abgedruckt in: Devětsil, Česká výtvarná avantgarda dvacátých let (Devětsil, Tschechische bildende Avantgarde der zwanziger Jahre), hrsg. vonJ. Rous, F. Šmejkal und R. Švácha, galerie hl. města, Prag 1986

3) Devětsil. Revoluční sborník, hrsg. von Jaroslav Seifert und karel Teige, Prag 1922. „Devětsil“ bedeutet in wörtlicher Übersetzung: Neunkraft, eingentlich: Pestwurz.

4) Vgl. F. Šmejkal, Česká výtvarná avantgarda dvacátých let, in: Devětsil 1986, a. a. O.

5) Disk, Internacionální revue, 1. 1923, Prag, U. S. Devětsil, 2. 1925, Brno. Devětsil, hrsg. von A. Černík, K. Teige, J. Seifert und J. krejcar. Stavba, Klub architektů 1922-1938, hrsg. von O. R. Marek, K. Teige u. a., Prag. Pásmo. Moderní leták 2 Jge., Brno 1924-1926

6) Ludwig Hilberseimer, Bauhandwerk und Bauindustrie, in: G. Material zur elementaren Gestaltung, 1. 1923, H. 1, o. p.

7) K. Teige, in Stavba. 2. 1923, S. 163

8) K. Teige, Das Weimarer Bauhaus und die deutsche Moderne, in: Stavba, 2. 1923, S 200-202.

9) In der Fachliteratur wird dieser Artikel, soweit bekannt, nicht erwähnt. Erst die Texte aus dem Jahre 1924 und später werden als wichtig in bezug auf die Integration der Ideen des Konstruktivismus in das eigene Programm von Devětsil betrachtet. K. Teige, Naše základna a naše cesta (Unsere Basis und unser Weg), in: Pásmo: 1.  1924, Nr. 3, S. 1 ff.; K. Teige, Malířství a poesie (Die Malerei und die Poesie), in Disk (Diskus), 1. 1923, S. 19f.; K. Teige, Obrazy (Die Bilder), in: Veraikon, 1924, S. 34ff.; und vor allem K. Teige, Poetismus, in: Host (Der Gast), 3. 1924, S. 207ff. Als erstes tschechisches Manifest des Konstruktivismus wird allgemein J. Štyrskýs Artikel: Obraz (Das Bild), in: Disk, 1. 1923, S. 1f. angesehen. (Deutsche Übersetzung in: Tschechische Avantgarde 1920-40, hrsg. von Z. Primus, Kunstverein Hamburg und Museum Bochum, 1990). 

10) Mehrere Artikel Adolf Behnes wurden im 2. Jg. von „Stavba“ veröffentlicht. Im schriftlichen Nachlaß von K. Teige (heute im „Památník národního písemnictví Praha. Literární archív aufbewahrt) finden sich fünf Briefe von A. Behne an K. Teige aus den Jahren 1923-1929. Von Mitgliedern der „K.I.“ werden hier weiterhin vier Briefe von Prampolini, 1923-1925, und ein Brief von van Doesburg (1924?) aufbewahrt.

11) Roman Jakobson war Mitglied des „Pražský lngvistický kroužek“ (Prager linquistischer Kreis) gegründet 1926, und hatte großen Einfluß auf das Entstehen der tschechischen literaturwissenschaflitchen strukturalistischen Schule in Prag in den dreißiger Jahren.

12) Paradoxenweise stand von den Tschechen Jaroslav Hašek Dada am nächsten, wenn auch weiniger formal als in der geistigen Haltung. Hašek, ein Zeitgenosse Kafkas, beendete Anfang der zwanziger Jahre seinen Roman über den braven Soldaten Schwejk.

13) Vgl. Aufruf zur elementaren Kunst, in: De Stijl, 5. 1922. H. 7. Siehe hierzu auch den Beitrag von Bernd Finkeldey in dieser Publikation: Elementarismus. Grundlageforschung für eine neune Gestaltung.

14) Vgl. J. Kotek. Podíl jazzu v české umělecké avantgardě davacátých let (Der Anteil des Jazz in der tschechischen Künstleravantgarde der zwanziger Jahre), in: Estetika, Nr. 8, Prag 987, S. 34 ff. und J. Bek, Schulhoffův manifest (Schulhoffs Manifest), ebd., S. 40 ff.

15) Vgl. J. Paclt, Koncepce barevné hudby ve výtvarném díle skladatele Miroslava Ponce (Die Konzeption der Farbmusik im bildnerischen Werk des Komponisten Miroslav Ponc), in: Umění, Nr. 2, Prag 1987, S. 15 ff.

16) Vgl. F. Šmejkal, Český konstruktivismus, in: Umění: Nr. 3, Prag 1982, S. 214 ff. Mit dem Lebenswerk von Z. Pešánek beschäftigt sich V. Čapek an der Karlsuniversität in Prag

17) V. Petr, Film, Prag 1925.

18) Ebd., S. 47.

19) Es handelt sich um Texte von V. Nezval, J. Honzl, A. Černík, J. B. Svrček, J. Seifert, I. Ehrenburg und K. Teige. Große Wichtigkeit wurde dem Film in der tschechischen Kultur von Anfang an zugeschrieben, vgl. Czech modernism 1900-1945, The Museum of Fine Arts, Houston 1989.

20) Die Problematik der tschechischen Avantgarde-Photographie analysiert J. Anděl, Modernism, The Avant-Garde and Photography, in: Czech modernism 1900-1945, a.a.O., 1989

21) K. Teige, Malířství a poesie (Die Malerei und die Poesie), in: Disk, 1. 1923. S. 19

22) László Moholy-Nagy, Typo-Foto, in: Pásmo, 2. 1925, Nr. 1. S. 16f

23) Vgl. dazu Tschechische Avantgarde 1922-1940, a.a.O.

24) K. Teige, V. Nezval, K. Paspa, Abeceda. Taneční kompozice Milči Majerové (Das ABC. Tanzkompositionen von Milča Majerová) Prag 1926.

25) Vgl. J. Anděl, A. Dufek und F. Šmejkal, Česká fotografie 918-1938 (Tschechische Fotografie 1918-1938), Brünn 1981; J. Anděl, The Czech Avant-Garde and the Book 1900-1945, in: Afterimage, Rochester/NY 1985

26) Vgl. J. Pechar, P. Urlich, Programy české architektury, Prag 1981

27) Deren Stilbreite analysiert R. Švácha, Architekti Devětsilu, in: Devětsil, a.a.O. Als wichtigste Beiträge seien die Arbeiten und Entwürfe von Honzík, Krejcar, Havlíček, Jan E. Koula, Fragner und Obrtel genannt.

28) „Im Frühjahr 1923 … spazierte ich mit Teige durch Prag und fühlte die Atmosphäre des Glücks, dessen Zeugen Frühlingsdüfte, Sterne, Lichtgirlanden in den Straßen, brechende Säufer… waren. Wir fanden den Ausgang aus der Disharmonie der Lebensanschauungen… und erfanden den Poetismus.“ V. Nezval, Z mého života, Prag 1959, S. 158

29) J. Štyrský und Toyen,  Artificialismus, in: Red, 1. 1927-28, S. 28 ff.

30) K. Teige, Poetismus (1. Manifest des Poetismus), 1924, a.a.O.

31) Die beste Übersicht über ihr Schaffen dieser Zeit vermittelt das Devětsil-Heft des Veraikon, 10. 1924, H. 3-4. Die künstlerische Entwicklulng der einzelnen Autoren war durchaus individuell. So malte O. Mrkvička in den Jahren 1927-1928 konstruktivistische Bilder, vgl. J. Šmejkal, Český konstruktivismus, a.a.O.

32) Hubertus Gaßner, Die Über-Vernunft des Konstruktivismus, in: Schlaf der Vernunft, Museum Fridericianum Kassel 1988, S. 7 ff.

33) Dieses Mysterium der Wirklichkeit beziehungsweise deren Wahrnehmung nannten die Avantgardisten auch „suprarealita“ (J. Voskovec) oder „konkrétní iracionalita“ (ein späterer Terminus V. Nezvals in der surrealistischen Revue „Zvěrokruh“ (Tierkreis). Auch der „Surrealismus“ in der ursprünglichen Bedeutung bei Guillaume Apollinaire trifft das Wesen des Problems.

34) Letztere entwickelte sich in den dreißger Jahren zu einer ideologischen Falle, die für Teige und eine Reihe von Künstlern und Theoretikern der Avantgarde verhängnisvoll wurde. Das Regime, das in den zwanziger Jahren ihre Ideale zu verkörpern schien, zeigte nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der Tschechoslowakei offen sein totalitäres Wesen.

Otištěno v katalogu výstavy „Konstruktivistische Internationale 1922-1927 – Utopien für eine europäische Kultur“ (Konstruktivistická internacionála 1922-1027 – utopie evropské kultury), Kunstsammung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf 1992